Wo war die Wärme vor dem Knicken?

(Der abgefahrene Mechanismus in Wärmekissen)

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Wenn man so ein Wärmekissen knickt, wird’s warm. Klar.
Aber findet ihr das nicht auch irgendwie ein bisschen merkwürdig? Ich meine, wo kommt denn diese Wärme her? Die kann ja nicht aus dem Nichts entstehen und trotzdem ist es vor dem Knicken kalt. Wo ist also die Wärme bevor es warm wird?

Normalerweise gleichen sich ja Temperaturen an. Also ein heißer Kaffee in nem kalten Raum wird erstmal kälter – und der Raum ein bisschen wärmer. Aber ein kaltes Wärmekissen in einem kalten Raum wird wärmer? Wie?

Also: In den Kissen ist ne klare Flüssigkeit. Und das kleine Metallplättchen, das die Flüssigkeit kristallisieren lassen kann. Dabei wirds warm. Und zwar ungefähr 52°C.

Übrigens egal, wie warm es vorher war. Das allein ist schon irgendwie abgefahren!
Möglich wird das erst dadurch, dass hier 2 Dinge gleichzeitig passieren. Das Erste ist offensichtlich: Hier kristallisiert was. Und dieses Was ist Natriumacetat. Ein Salz, dass auch in Lebensmitteln als Säureregulator genutzt wird [1]. Auf den ersten Blick eigentlich so ähnlich, wie wenn Wasser kristallisiert – also einfriert. Was es irgendwie noch verwirrender macht, oder? Ein Stoff, der beim Einfrieren wärmer wird? Da geht’s doch eher ums Kälterwerden…?! Naja. Wenn man genauer hinguckt, sind diese beiden Dinge ein bisschen näher beisammen als man intuitiv vielleicht meinen würde. Schaut mal hier:

Ich heize die Kristalle wieder auf, lasse sie also wieder schmelzen, die sind jetzt so bei 70°C und dann lassen wir die Flüssigkeit offen im Glas wieder abkühlen. Und schaut mal! Bei 52°C kristallisiert das von alleine wieder. Ohne irgendein Plättchen zu knicken. Beim ersten Mal schauen wir uns einfach mal an, wie schön das aussieht. Und dann schauen wir das Ganze nochmal. Und jetzt achtet mal auf die Temperatur: Die Kristallisation beginnt bei etwa 52°C und dann wird das sogar erstmal wieder ein bisschen wärmer. Und das bleibt jetzt über die Kristallisation relativ konstant und kühlt gar nicht ab.  Wie geht das denn? Ich meine der Raum hier hat nur 20°C. Das Glas muss also Wärme an die Umgebungsluft verlieren. Das Glas müsste also kälter werden. Wenn die Temperatur aber trotzdem konstant bleibt, muss das ja heißen, dass bei der Kristallisation Wärme nachgebildet wird… Und das ist auch so. Und zwar nicht nur hier, sondern auch bei anderen Stoffen. Auch wenn wir Wasser im Tiefkühlfach bei -10°C einfrieren, bleibt es bei 0°C bis es komplett gefroren ist. D.h. auch da wird während des Einfrierens Wärme frei [2], die die Temperatur währenddessen konstant hält. Okay… Ich hab jetzt 2 Fragen:

  • Warum wird dabei Wärme frei – Wo kommt die her?
  • Und: Wenn Natriumacetat doch bei 52°C kristallisiert und nach der Kristallisation weiter abkühlt, ja toll – dann haben wir ein kaltes, kristallisiertes Kissen. Das hilft uns ja nichts. Wir wollen ja ein flüssiges Kissen. Was ist da also neben dem Kristallisieren noch los?

Erstmal, wo kommt die Wärme her?

Wenn das Natriumacetat kristallisiert, dann bilden die vorher flüssigen Moleküle gemeinsam eine Kristallstruktur [3], ein festes geordnetes Gitter. Die docken dabei aneinander an und bilden Elektronenbindungen. Und wenn so ne Bindung eingegangen wird, dann wird dabei Energie frei [4]. Wo kommt die her? Die ist vorher auch schon da, aber in Form von potenzieller Energie – und die ist sozusagen „losgelöst von Temperatur“. Und ist das nicht abgefahren? Weil die Energie halt in potentieller Form gespeichert ist, hat sie keine Temperaturverluste! Da speichert man also Wärme, ohne im Laufe der Zeit Wärme zu verlieren. So aus ner Alltagssicht ja ein total ungewöhnliches Phänomen… Da besteht chemisch quasi das Potenzial Wärme zu erhalten, aber das wird erst angezapft, wenn die Kristallisation beginnt.
Und diese Energie ist gar nicht so unlogisch, denn die ist ja vorher auch reingesteckt worden. Wenn wir die Kissen langsam aufkochen, und dabei mal genauer hinschauen, sehen wir nämlich, dass die Wassertemperatur im Topf erstmal normal ansteigt aber auch dann wieder konstant bleibt – zwischen 50 und 60°C! Dabei geht ja trotzdem weiter Strom rein! Wo geht die Energie hin? Die hilft dabei, die NaAC-Moleküle wieder aus dem Kristallgitter zu lösen. Die also voneinander wegzuziehen. Dafür muss die Bindungsenergie eben erstmal überwunden werden.

Und dieses Prinzip, die Energie, die beim Phasenwechsel zwischen flüssig und fest gespeichert oder eben frei wird, gezielt zu nutzen, das macht man nicht nur bei Wärmekissen:
Damit kann man Medikamentenlieferungen [5] kalt halten oder Pizza warm, das kann in Pufferspeichern [6] genutzt werden, damit die nicht so groß sein müssen, um aber trotzdem sehr viel Wärme zu speichern. Oder auch, wenn irgendwo z.B. in Industriebetrieben, immer kurzzeitig Abwärme übrig ist, kann die in solchen Phasenwechselspeichern eingespeichert werden, auf dem LKW woanders hintransportiert werden, um da wieder genutzt zu werden [7].
Ist also auch energietechnisch ziemlich spannend.

Aber es bleibt ja noch die Frage: Warum ist das hier noch nicht eingefroren? Das hat Raumtemperatur und ist trotzdem flüssig. Das sollte doch gar nicht sein – es ist doch viel zu kalt dafür.

Genaugenommen friert und schmilzt das eigentlich nicht wirklich. Zumindest nicht im gewöhnlichen Sinne, allein wegen der Temperatur. Denn NaAC hat einen Schmelzpunkt und die 300°C [8]. Hier passiert also ein bisschen was anderes: das hier ist gar kein reines Natriumacetat. Sondern Natriumacetat in Wasser gelöst. Ihr kennt das ja, wenn man Kochsalz in Wasser auflöst. Ist erstmal „weg“. Gelöst. Aber irgendwann kommt ein Punkt, wenn man immer mehr Salz reinschüttet, dass sich das nicht mehr löst. Das Wasser ist gesättigt. Die Löslichkeitsgrenze ist überschritten. Mehr Salz nimmt das Wasser nicht in die Flüssigkeit auf. Also bleibt der Rest in Form von Salzkristallen fest.
Aaaber, wenn man jetzt die Temperatur steigert, dann geht doch noch was. Die Löslichkeit ist also temperaturabhängig. Lässt man die Mischung wieder abkühlen, kristallisiert das Salz wieder aus. Und genau das passiert auch mit dem Natriumacetat. Das heißt, das kristallisiert nicht, weil es einfriert, sondern eigentlich ist es so, dass die Flüssigkeit so kalt wird, dass das Wasser das Salz wieder ausspuckt.

Aber sie tut es ja halt nicht… Warum?
Weil sie nicht kann… Sie möchte, aber es geht nicht.
Es braucht nämlich einen Kristallisationspunkt. Irgendwo müssen die ersten Moleküle so zusammentreffen, dass sie anfangen, das Kristallgitter zu bilden [9]. Hierdrin ist aber alles so rein, die Oberflächen so glatt, dass sich nicht einfach so ein Kristallisationspunkt bildet. Obwohl es von der Temperatur eigentlich passieren müsste. Das hier ist also eine (meta)stabile [10], übersättigte Lösung. Da ist mehr Salz drin gelöst als von der Temperatur her sein dürfte, aber es kann halt auch nicht raus aus der Lösung, weil kein Molekül anfangen will.

Wenn man aber das Plättchen knickt, dann gibt man den Molekülen einen Kristallisationspunkt. Ob durch raue Oberfläche oder durch den Impuls durch die Flüssigkeit, da findet man unterschiedliche Erklärungen [11], aber die ersten Moleküle richten sich aneinander aus, und dann docken mehr an und an und an und an, wie eine Kettenreaktion – und überall wird die potenzielle Energie gleichzeitig freigesetzt und das Kissen wird warm J

Also: Hierdrin ist eine übersättigte / unterkühlte Salzlösung, die schon längst kristallisiert sein würde, aber das erst kann, wenn wir knicken – Und dann die ganze Energie, die beim Andocken der Moleküle an der Kristallstruktur freiwird, in Form von Wärme abgibt. *seufz* Thermodynamik 😊


[1] European Commission – Food and Feed Information Portal: Sodium acetates, zuletzt geöffnet am 26.02.2024

[2] Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. (DGUV): GESTIS-Stoffdatenbank: Wasser, zuletzt geöffnet am 26.02.2024
und
Lumitos AG: Chemie.de – Enthalpie, zuletzt abgerufen am 26.02.2024

[3] Kunkel, Sven [2019]: Untersuchung der Mechanismen zur Wärmeübertragung
in Direktkontaktlatentwärmespeichern
, S. 12 f., genehmigte Dissertation, Technische Universität Berlin

[4] Riedel, Erwin and Janiak, Christoph [2009]:2. Die chemische Bindung“. Übungsbuch, Berlin, New York: De Gruyter, https://doi.org/10.1515/9783110211375.2.119

[5] Projektträger Jülich | Forschungszentrum Jülich GmbH: industrie-energieforschung.de – “Kühlakkus aus Phasenwechselmaterial – coCO2vac: SARS-Covid-19-Impfstoffe sicher und energieeffizient transportieren” (10.12.2020), zuletzt abgerufen am 26.02.2024

[6] VDI Fachmedien GmbH & Co. KG: ingenieur.de – “Hybrid-Wärmespeicher mit Wasser und PCM-Granulat”, zuletzt abgerufen am 26.02.2024

[7] Kreisboten-Verlag Mühlfellner KG: kreisbote.de – “LENAs Wärmetransport sorgt bundesweit für Furore” (14.10.2022), zuletzt abgerufen am 26.02.2024
und
Erzo – Entsorgung Region Zofingen: mobilewaerme.ch – “Erstmalig in der Schweiz: mobiler Wärmespeicher”, zuletzt abgerufen am 26.02.2024

[8] Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. (DGUV): GESTIS-Stoffdatenbank: Natriumacetat, zuletzt abgerufen am 26.02.2024
und
Wikipedia: Natriumacetat, zuletzt abgerufen am 26.02.2024

[9] Wikipedia: Kristallisation, zuletzt abgerufen am 26.02.2024

[10] Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät Chemie und Pharmazie: Glossar – Fällungsreaktionen, zuletzt abgerufen am 26.02.2024

[11] Siemens Stiftung: Das Medienportal der Siemens Stiftung – A2 Wir speichern Wärme – Vom Wasserspeicher zur Salzschmelze, S. 4, zuletzt abgerufen am 26.02.2024
Wikipedia: Latentwärmespeicher, zuletzt abgerufen am 26.02.2024
Rogerson, Mansel & Cardoso, Silvana [2003]: Solidification in heat packs: III. Metallic trigger. Aiche Journal – AICHE J. 49. 522-529. 10.1002/aic.690490222.

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